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Ich warf einen Blick aus dem Fenster auf den nächtlichen Himmel. Der Mond verbarg sich hinter einer dunklen Wolkenwand und nur zwei Sterne waren in der Ferne auszumachen. Irgendwo hupte ein Auto, ansonsten herrschte Stille.
Angenehm und einsam zugleich.
Mein Blick wanderte zurück zu der Klinge vor mir auf dem Holztisch. Das silberne Metall schimmerte im matten Licht, das von draußen hereindrang.
Eigentlich hätte ich bei Rewi und Felix im Zimmer sitzen müssen für einen Gesprächsabend, aber Rezo war so müde von der Therapie gewesen, dass wir ihn auf morgen verschoben hatten.
Vorsichtig griff ich nach der Klinge und fuhr sanft mit meinen Fingern darüber. Ich bog das dünne Metall ein Stück und ließ es dann wieder los. Wie leicht man sie brechen könnte.
Es war mir vorher nie aufgefallen wie leicht man sie in zwei Hälften teilen konnte. Aber es lag vermutlich daran, dass ich mir eine Klinge noch nie so genau angeschaut hatte, wie jetzt. Die meiste Zeit, wenn ich eine in der Hand gehalten hatte, hatte ich sie nur über meinen Arm gezogen und danach weggeschmissen. Noch nie hatte ich ein so kleines Stück Metall so lange betrachtet wie jetzt.
Ich streifte mir den Hoodie über den Kopf und warf ihn auf mein Bett. Dann richtete ich mein T-Shirt und legte meinen linken Arm auf den Tisch.
Mein Blick flog über die weißen Narben, die deutlich im schwachen Licht zu erkennen waren. Ich legte die Klinge auf den Tisch und fuhr mit meinen Fingern über die vernarbte Haut. Überall waren Schnitte.
Mal waagerecht, mal senkrecht.
Mal oberflächlich, mal tiefer.
Mal lang, mal kurz.
Mal hatten sie geblutet, mal waren es nur Kratzer gewesen. Wenn die Klinge schon älter war oder ich keinen Mut für tiefere Schnitte gehabt hatte.
Besonders am Anfang war es eine Überwindung gewesen sich die Klinge über die Haut zu ziehen. Aber mit der Zeit waren aus Schrammen Schnitte geworden. Aus kurzen Schmerzen, brennende Wunden.
Ich ließ von meinem Arm ab und seufzte. Ein Teil von mir wollte die Klinge nehmen und weitere Schnitte setzen. Aber zum ersten mal zögerte mein Kopf. Da war ein neuer Gedanke in mir. Nein, es waren zwei.
Einer war, dass morgen wieder Sporttherapie war und ich mir nicht sicher war, ob man frische Schnitte durch die Netzstulpen von alten unterscheiden konnte.
Und der andere, der stärkere Gedanke, war der, dass ich Angst hatte, dass Rezo sie entdeckte.
Vorher war es mir egal gewesen, wer die Schnitte sah. Es war mir egal gewesen, ob Leute mich wegen meiner Narben anstarrten oder etwas dazu sagten. Mir war alles egal gewesen.
Aber zum ersten mal stellte sich diesem "Egal" ein anderer Gedanke in den Weg. Ich wollte nicht, dass Rezo oder Julien oder auch Rewi oder Felix das sahen. Ich wollte mich nicht erklären müssen. Und ich hatte Angst vor Rezos Reaktion. Angst davor, dass er sauer war. Das es ihn triggern könnte. Das ich allein war. Das er mich hasste. Das sie alle mich hassten. Diese Angst war am größten.
Was wenn Rezo die Schnitte entdeckt und ich danach niemanden mehr habe? Der Gedanke war merkwürdig.
Ich wollte immernoch sterben, lieber als alles andere. Aber bis dahin wollte ich nicht allein sein. Ich wollte mit ihnen beim Essen lachen. Ich wollte am Pavillion mit ihnen sitzen. Ich wollte mit ihnen über sinnlose Themen reden. Ich wollte nicht verlieren, dass sie mich zum lächeln brachten. Denn das taten sie.
Vor meinem Versuch hatte ich niemanden gehabt und hier hatte ich in den anderen soetwas wie Freunde gefunden. In suizidalen Psychopathen hatte ich Freunde gefunden.
Sie waren wie ich und dennoch bewunderte ich jeden einzelnen von ihnen irgendwie. Ich bewunderte Rezo für seine Motivation. Ich bewunderte Julien für seine Fürsorge. Ich bewunderte Felix für seine Treue. Ich bewunderte Rewi für seinen Humor. Sie alle gaben mir mehr vom Leben, als ich seit langem bekommen hatte.
Und auch wenn ich mir das Leben nehmen würde und sie damit verletzen würde. Bis dahin wollte ich leben. Und das konnte ich nur bei ihnen.
Vorsichtig griff ich wieder nach der Klinge und setzte sie an meiner Pulsader an. Ich könnte es tun. Es waren nur ein paar Sekunden, die ich die Klinge tief in die Haut drücken und durchziehen musste. Nur ein paar Sekunden und es wäre alles vorbei.
Wäre es nicht. Sie würden dich nicht gehen lassen. Ich zögerte kurz, dann ließ ich von meinem Arm ab.
Es stimmte, sie würden mich nicht so einfach gehen lassen. Verbluten war kein schneller Tod. Ein Pfleger würde mich krampfend am Boden finden und ich würde auf Station 2 kommen. Vielleicht sogar in eine andere Klinik. Und damit wäre keinem geholfen.
Nein. Der nächste Versuch musste so sicher sein, dass er klappen würde.
Mein Blick wanderte zu meinem Schrank. Die Tabletten darin reichten kaum um überhaupt einzuschlafen. Und mein Herz würde davon wohl kaum aussetzen. Also blieb mir nur die Möglichkeit es jetzt zu versuchen oder zu warten. Lange zu warten.
Sie würden mich in den nächsten Wochen nicht entlassen, also konnte ich einen Versuch draußen, der sicher klappen würde, auch vergessen. Wenn ich versuchte, musste es hier drinnen klappen. Und es konnte nicht unmöglich sein. Es gab immer einen Weg.
Wenn ich hier drinnen an Klingen kam, kam ich auch an genug Tabletten um für immer einzuschlafen.
Wieder sah ich auf die Klinge in meiner Hand. Ein Schnitt? Vielleicht ein langer tiefer, der genug Schmerzen brachte um mehrere kleine zu ersetzen? Oder wenigstens ein kleiner am Oberarm, dort wo mein T-Shirt ihn verdeckte? Oder ein Schnitt am Oberschenkel, den niemand entdecken würde?
Aber schließlich legte ich die Klinge auf den Tisch zurück und schüttelte den Kopf. Meine Angst, Rezo könnte morgen irgendwie dahinter kommen, war zu groß. Meine Angst allein zu sein war zu groß.
Also erhob ich mich vom Stuhl und ging zu meinem Bett. Dort legte ich die Klinge in die Tasche meines Hoodies zurück und schmiss den Hoodie vor den Schrank.
Dann legte ich mich hin und starrte an die Decke. Aber der Drang mir etwas anzutun verschwand damit nicht.

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