Ich stand von meinem Bett auf und ging zum Fenster. Im blassen Sonnenlicht blieb ich stehen und zog mir den Hoodie über den Kopf. Dann warf ich ihn achtlos auf die Fensterbank und sah an meinen Armen herunter.
Sie waren dünner als sonst. Die Knochen am Handgelenk stachen so deutlich hervor, dass ich unsicher darüber fuhr. Probeweise schloss ich Daumen und kleinen Finger der rechten Hand um mein linkes Handgelenk und wandte den Blick ab.
Doch er blieb sofort an meinem linken Unterarm hängen und ich musterte die Narben. Die letzten Schnitte waren zu blassen weißen Erhebungen in der Haut geworden und nur die besonders tiefe hatte noch ihre rote Farbe behalten.
Vorsichtig fuhr ich mit meiner rechten Hand über die unzähligen Narben. Es waren so viele, dass mein Unterarm geradezu entstellt aussah und ich das Gesicht verzog.
Wieso hatte mich mir nur so viel angetan?
Ich warf einen Blick aus dem Fenster, doch auch dort gab es keine Antwort. Ich seufzte und griff nach dem Hoodie.
Einen Monat. Es fühlte sich an, als wäre es gestern gewesen, dass Rezo sich das Leben genommen hatte.
Ich zog mir den Hoodie über und starrte weiter aus dem Fenster.
Mein Kopf schmerzte. Es fiel mir schwer mich an den letzten Monat zu erinnern. Als hätte sich eine fremde Person meinen Körper geliehen und mir gerade erst zurückgegeben.
Statt klaren Bildern war es ein Chaos aus Medikamenten, Tränen, Gedanken und schlaflosen Nächten. Jeder Tag war nur einen Wimpernschlag und gleichzeitig unzählige Sonnenumrunden lang gewesen.
Ich musste gähnen und schloss für einen Moment die Augen. Fast hatte ich mich daran gewöhnt, dass die Müdigkeit an mir nagte wie ein hungriges Tier. Nur Medikamente hatten geholfen das zu lindern.
Ich drehte mich zur Tür und ging darauf zu. Einen ganzen Monat hatte ich hier in diesem Zimmer verbracht und jetzt hatte ich das Gefühl keine Sekunde mehr hier verbringen zu können ohne mich fremd zu fühlen.
Zögern schloss ich meine Hand um die Türklinke. Tief in meinem Herzen schrie etwas danach hier zu bleiben. Allein zu bleiben. Doch mein Herz war kaputt und so verlor sich das Gefühl in den endlosen Scherben. Mir ist alles egal geworden... tut mir Leid.
Ich drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. Dann trat ich auf den Flur und sah ihn herunter.
Zu meiner Linken lag nur die Glasscheibe und die Stationstür. Doch zu meiner Rechten zweigten mehrere Türen und Gänge ab.
Ohne weiter zu zögern ging ich den Flur entlang und musterte die Türen die zu beiden Seiten abgingen. Es waren alles Zimmer, soweit ich es beurteilen konnte. Doch im Gegensatz zu denen von Station 3 wirkten die Türen breiter und es waren deutlich weniger Zimmer.
In dem Moment öffnete sich neben mir eine Tür und ein Mädchen in meinem Alter trat heraus. Sie hatte schulterlange blonde Haare und blassblaue Augen. Als sie mich sah schrak sie kurz zusammen, dann lächelte sie.
,,Hi", flüsterte sie schüchtern, ging dann schnell an mir vorbei in die andere Richtung. Ich drehte mich zu ihr um und sah ihr nach. Sie wirkte fast genauso abgemagert wie ich.
Also eine Magersüchtige... Sofort hasste ich mich für den Gedanken. Als hättest du das Recht andere zu beurteilen, nachdem was du getan hast...
Ich schüttelte den Kopf. Nein, soetwas stand mir wirklich nicht zu.
Ich ging weiter den Flur entlang und musterte die Bilder an den Wänden, die in einigen Abständen aufgehängt worden waren. Sie zeigten sonnendurchflutete Wälder, blaue Ozeane und die verschiedensten Tiere. Wenigstens bunter als auf 3...
Ich seufzte wieder. Als würde das die Station besser machen. Sowieso ging ich nur durch die Station um zum Mittagessen zu gehen.
Den letzten Monat hatten mir die Pfleger das Essen aufs Zimmer gebracht, auch wenn ich nur das nötigste zu mir genommen hatte. Doch jetzt ließen sie mir keine Wahl mehr. Als würde ich einfach aufhören zu trauern.
Der Stein der sich auf meine Brust legte bei dem Gedanken zog mich fast zu Boden. Ja, sein Tod schmerzte immernoch genauso sehr wie vor einem Monat. Daran hatte sich nichts geändert.
Die Türen die jetzt folgten hatten einen milden Grünton und waren mit abstrakten Bildern versehen. Nachdenklich musterte ich einige davon.
Julien würde sich hier wohlfühlen. Auch der Gedanke versetzte mir einen Stich.
Julien. Ich hatte ich nach Rezos Suizid nicht mehr gesehen und zum ersten mal fragte ich mich wies es ihm jetzt wohl ging. Er war Rezos bester Freund gewesen auf 3 und beide hatten eine Verbindung gehabt, die ich immer beneidet hatte.
Ob er auch hier ist? Fast hätte ich mich suchend umgesehen. Dann schüttelte ich den Kopf. Nein, Julien war nicht der Typ für die Geschlossene.
Ich beschleunigte meinen Schritt, doch die Gedanken folgten mir unerbittlich. Dennoch kam ich der Tür zum Speiseraum immer näher und hielt darauf zu. Es war die letzte Tür im Gang und stand bereits offen, sodass man den raum dahinter bereits erahnen konnte.
Mehrere Tische und Stühle standen dort. An einem von ihnen saßen zwei Jungen und unterhielten sich. Doch ich kannte beide nicht. Wie auch? Ich wollte mich selbst ohrfeigen. Du kennst keinen hier.
Ob das gut oder schlecht war, da war ich mir nicht sicher. Aber neue Freunde brauchte ich sowieso keine mehr. Ich brauche keinen weiteren Suizid, der mein Herz zerschmettert.
Ich betrat den Raum und musterte diesen. Er ähnelte dem Speiseraum von Station 3, war jedoch kleiner. Außer den beiden Jungen saß noch ein weiterer Junge am Ende des Raumes am Fenster und sah hinaus. Fast wollte ich den Blick von ihm abwenden, doch dann stockte ich und sah genauer hin.
Sofort beschleunigte sich mein Herschlag und ich kniff überrascht die Augen zusammen. Ich kannte den Jungen. Leider...
In dem Moment drehte er den Kopf und sah ebenfalls zu mir. Für ein paar Sekunden sahen wir uns einfach nur in die Augen. Schmerz traf auf Überraschung. Mitleid auf Erkenntnis.
Dann zwang sich der andere zu einem Lächeln und ich bemerkte erstmals den dünnen grauen Schlauch, der aus seiner Nase zum Nacken verlief und nur durch ein Pflaster fixiert war.
Es war Felix.
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...