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Ich seufzte als sich die Tür schloss und ließ mich dann auf einen der Stühle am Fenster nieder.
Die plötzliche Stille schien gleichzeitig erdrückend und angenehm zugleich. Draußen hatte es begonnen zu regnen und die Wolken hingen dunkel am Himmel.
Ich stützte meine Arme auf den Tisch und ließ meinen Kopf in meine Hände sinken. Selbst wenn ich nicht genau wusste warum, gerade ging es mir nicht gut.
Wobei... was hieß gerade? Es ging mir seit meinem Versuch nicht gut. Es war mehr als 3 Wochen her und dennoch konnte ich nicht aufhören daran zu denken. An mein Versagen.
Ich blinzelte zu dem Zettel, der vor mir lag. Seit Felix hier gewesen war, hatte ich ihn dort nicht angerührt. Obwohl er schon lange ausgefüllt sein sollte.
Ich holte tief Luft, nahm ihn mir und den Kugelschreiber, der daneben lag. Auch wenn ich ihn am liebsten weggeworfen hätte, drehte ich ihn zu mir und las die schwarzen Buchstaben. Ich überflog den Zettel. In gewisser Weise kannte ich ihn.
Im Krankenhaus hatte ich einen ähnlichen ausfüllen müssen. Aber an meine Antworten konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Sofort schob ich den Gedanken beiseite. Ich wollte nicht an die Tage nach meinem Aufwachen denken. Und ich konnte es auch nicht. Die Zeit dort schien nur aus endloser Leere und nicht enden wollenden weißen Wänden zu bestehen.
Infusionen, die durch meinen Körper flossen.
Blut, das man mir abnahm.
Ärzte, Psychologen, ein Psychiater. Sie hatten alle mit mir reden wollen.
Aber wie redete man schon mit jemandem, der gerade nichts lieber wollte, als zu sterben? Wie redete man mit jemandem, der schon vor langer Zeit angefangen hatte zu sterben, aber am Ende zu schwach zum sterben war?
Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Vor meinem Versuch und danach. Aber die Zeit davor schien einen Sinn zu haben, die Zeit danach nicht.
Seit meinem Versuch schien eine Sanduhr stehen geblieben zu sein, die hätte ablaufen sollen. Ein einziges Sandkorn, dass nicht tun wollte, was es sollte. Und das, obwohl es sich nicht mal dagegen wehrte. Wieso war es so schwer zu sterben, wenn es das einzige war, das man wollte?
Ich setzte den Stift auf das Blatt und schrieb ein Wort. "Haben Sie einen aktuellen Suizidwunsch?" "Ja"
Meine Hand zitterte ein wenig, aber ich ignorierte es. Es war einfach diese Frage zu beantworten. Hätte man mir vor meinem Versuch diese Frage gestellt, hätte ich sie wohl mit "Vielleicht" beantwortet, wenn ich ehrlich gewesen wäre. Mein Kopf hätte "Ja" gesagt, aber vermutlich wäre es nur die halbe Wahrheit gewesen. Hätte ich gewusst, wie es nach dem Versuch sein würde, hätte ich sie sicher mit "Ja" beantworten können.
Es ist schon komisch, dass man dem Tod so nahe sein kann und man sich danach wünscht ihm noch näher zu sein.
War mein Wunsch zu sterben größer geworden? Die Frage war schwer. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Seit meinem Versuch lebte ich für die winzigen Funken Hoffnung am Tag, die mir Rezo, Julien und die anderen gaben. Und gleichzeitig lebte ich um es wieder zu versuchen.
"Gibt es einen genauen Plan?" Ich setzte den Stift an. Ja. Den gab es. Ich sah kurz zu meinem Schrank. Die Tabletten. Es war nur eine Idee, noch zu ungenau um zu sagen, dass sie klappen könnte. Aber es war einen Versuch wert. Einen weiteren.
"Nein" schrieb ich beihnahe in Zeitlupe hinter die Frage. Es war gelogen, aber genau darum ging es.
Ich sah auf die nächste Frage. "Gab es in der Vergangenheit bereits Suizidversuche?"
Ich ließ den Stift sinken und fuhr mir durch die Haare. Dabei strich ich mir die Kapuze vom Kopf und eine Strähne fiel mir ins Gesicht. Etwas genervt strich ich sie zur Seite und kritzelte dann ein "Ja" hinter die Frage.
Einer. Es war nur einer gewesen. Nicht mehrere. Aber wer weiß? Vielleicht überlebte ich ja noch mehr. Der Gedanke ließ mich frösteln.
Das Problem war nicht loszulassen. Das Problem war nicht sich vom Leben zu trennen. Nein. Das alles hatte ich schon vor langer Zeit für mich entschieden. Das Problem war es zu schaffen. Zu sterben. Denn egal wie sehr man es sich wünschte, ein Teil des Körpers wollte nicht gehen. Egal was man auch tat, das Herz versuchte weiter zu schlagen. Es kämpfte gegen einen Kopf, der nicht mehr wollte. Wieso war das Herz nur so verdammt stark?
Ich seufzte erneut. Das Herz war so viel stärker als der Kopf. Ich hatte mich nie verliebt, nie Gefühle für jemanden gehabt. Mein Herz war nie gebrochen worden. Dafür war mein Kopf gebrochen worden. Meine Psyche.
Wenn das Herz bricht, schlägt es weiter. Bricht der Kopf, gibt er auf. Es war paradox, aber genauso funktionierte es doch oder nicht? Wieso hatte man mir nicht einfach das Herz gebrochen?
Ich biss mir auf die Lippen. Dann wandte ich mich der nächsten Frage zu. Dann der nächsten und der übernächsten.
Manchmal log ich, manchmal schrieb ich eine wahre Antwort.
Manchmal zitterte meine Hand, manchmal lag der Stift ruhig auf dem Papier.
Manchmal kannte ich die Fragen, manchmal nicht.
Schließlich legte ich den Stift zur Seite und schob das Blatt von mir weg. Nur zehn Fragen, aber mein Kopf schien zu explodieren. Und gleichzeitig beruhigte die Stille ihn.
Tropfen klatschten gegen das Fenster und ließen mich zusammenzucken, bevor ich aufstand und mir erneut durch die Haare fuhr. Was war nur los mit mir? Kaum herrschte wieder Stille in diesem Zimmer, überfielen mich die Gedanken wie ein hilfloses Beutetier.
Zugleich wünschte ich mir Felix zurück und wollte mit meinen Gedanken allein sein.
Ich wünschte mir Rezo her und wollte ihn anschreien.
Ich wünschte mir mit Julien zu reden und wollte ihn wegstoßen.
Ich wünschte mir Taddl her und wollte ihn anschweigen.
Als würde mein Kopf sich an keiner Entscheidung festhalten können.
Ich schnappte mir den Zettel und ging zur Tür. Ich musste weg. Weg von meinen Gedanken. Ich öffnete die Tür, betrat den Flur und schloss sie hinter mir.
Erst dann schienen sie von mir abzufallen und ich lehnte mich dagegen. Dann schloss ich die Augen und versuchte meinen Atem zu beruhigen.

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