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Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Julien und Rewi das ganze Zimmer durchsucht hatten. Die ganze Zeit über stand ich mitten im Raum und sah ihnen dabei zu, wie sie etwas suchten, was es nicht mehr gab.
Sie sahen an so viele Stellen, dass ich mir mit meinem Sockenverstekc ziemlich dämlich vorkam. Andererseits hatte Rewi die Tabletten nicht bemerkt. Vielleicht auch weil sie etwas ganz anderes suchten.
Irgendwie fühlte ich mich noch schlechter zu wissen, dass ich ihnen auch das verheimlichte. Aber sie aufzuklären würde vermutlich alles nur noch schlimmer machen.
,,Keine Ahnung wo er sie versteckt hat", seufzte Julien schließlich, während er von der Heizung abließ, die er untersuchte.
,,Ich hab keine mehr", wiederholte ich müde und ließ mich auf den Stuhl hinter mir sinken.
,,Das hat er mir vor ein paar Tagen auch gesagt", murmelte Rew nachdenklich und ließ sich seufztend auf mein Bett sinken.
,,Guck dir seine Arme doch an", Julien deutete fast vorwurfsvoll auf mich, ,,Der eine Schnitt ist nicht erst ein paar Tage alt." Ich schloss die Augen. Es strengte mich an immer wieder zu versuchen ihnen zu versichern, dass ich keine Klingen mehr hatte.
,,Ich weiß", Rewi fuhr sich leicht genervt durch die Haare und sah sich noch einmal im Zimmer um.
,,Vielleicht solltest du Rezo mal drauf ansetzen", fügte er hinzu, ,,Der kennt sich da besser aus." Ich öffnete meine Augen wieder.
,,Wo ist Rezo?", fragte ich matt. Rewi und Julien wechselten einen kurzen Blick. Aber er war lang genug, dass ich wusste, dass ich Recht gehabt hatte. Ich hatte Rezo verloren. Beide schwiegen.
,,Hab ich euch jetzt auch verloren?", hörte ich mich mit festerer Stimme fragen. Ich spürte wie sich erneut Tränen in meinen Augen sammelten. Verdammt, auch vor der Antwort hatte ich Angst. Aber ich musste es wissen.
,,Du hast uns nicht verloren", seufzte Julien und setzte sich auf den Stuhl neben mir, ,,Und du hast auch Rezo nicht verloren." Ich merkte, wie schwer es ihm fiel das zu sagen. Die Enttäuschung und Traurigkeit in seiner Stimme waren nicht zu überhören.
,,Ich würds verstehen", murmelte ich gleichgültig, während erneut Tränen über mein Gesicht rannen, ,,Man kann mir nicht vertrauen." Ich presste meine Hände auf meine Augen.
Diese scheiß Tränen.
Diese scheiß Angst.
Dieses scheiß Leben.
,,Hey", Julien legte mir seinen Arm auf die Schulter, ,,Es war falsch dir etwas anzutun, Mexi. Aber deswegen lassen wir dich nicht alleine, klar?" Er sah mich an, aber ich wich seinem Blick aus.
,,Klar?", wiederholte auch Rewi und beugte sich vor. Ich traf seinen Blick. Schmerz, Angst und Enttäuschung lagen darin.
Ich hatte es ihm sogar versprochen mir nichts mehr zu tun. Und hatte es dennoch getan. Es tat weh das in seinen Augen zu sehen. Gerade tat einfach alles weh.
,,Ich habe keine Klingen mehr, wirklich", ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen und sah flehend zu Julien, ,,Kannst du mir das irgendwie glauben?" Wie schwach ich war. Ich musste ihn anflehen mir zu vertrauen. Nach all den Schnitten, die ich ihnen verheimlicht hatte. Ich sah wie Julien mit sich rang.
,,Wieso sollte ich euch noch anlügen?", ich holte tief Luft und lachte traurig auf, ,,Ich hab doch wirklich schon genug gelogen, oder?" Es dauerte einen Moment, dann gab Julien nach und nickte langsam.
,,Okay, ich glaube dir", seufzte er, auch wenn man ihm ansah, dass es ihm schwer fiel.
,,Danke", ich nickte ihm dankbar zu und biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte es nicht verdient, dass man mir glaubte. Denn ich war immernoch nicht ehrlich zu ihnen.
,,Ich glaub dir auch", auch Rewi seufzte, ,,Wir wollen nur einfach, dass du es lässt, verstehst du?" Ich nickte, denn ich verstand sie ja. Aber auf der anderen Seite war es sinnlos jemandem zu vertrauen, der sein Leben jahrelang der Selbstverletzung gewidmet hatte.
,,Wo ist Rezo?", wiederholte ich meine Frage schließlich wieder. Auch wenn ich die Antwort kannte.
,,Rezo braucht Zeit", wich Julien der Frage aus. Ich nickte langsam. Denn es bestätigte nur, was ich wusste: Ich hatte ihn verloren. Ich atmete tief durch und versuchte den Gedanken nicht zuzulassen. Denn langsam hatte ich wirklich keine Tränen mehr.
,,Wie oft hast du dir etwas angetan?", fragte Julien und musterte meine Arme mit den Pflastern.
,,Keine Ahnung, sorry", ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte es zu oft getan. Viel zu oft.
,,Und die Klingen hast du weggeschmissen?", fragte Rewi und musterte mich genau. Ich nickte und schloss wieder die Augen. Bitte glaubt es mir einfach...irgendwie. Rewi nickte nachdenklich.
,,Woher hast du die Klingen?", fragte Julien weiter. Von Luca. Aber das konnte ich nicht sagen.
,,Habe ich mitgenommen", log ich. Innerlich zog sich mein Herz zusammen. Vertraut mir bitte nicht. Ich werde immer lügen. Bis ich tot bin.
Aber sie glaubten mir. Leider. Sie glaubten mir eine scheiß weitere Lüge, nachdem ich sie so lange angelogen hatte. Am liebsten hätte ich geschrien. Alles war so verdammt sinnlos.
Ich war gefangen in einer endlosen Schleife aus Lügen, Selbstverletzung, Suizidversuchen und negativen Gedanken. Es würde immer so weitergehen. Und der einzige, der diese Schleife durchbrechen konnte war ich. Es gibt nur einen Ausweg.
Ich sah zur Tür. Der Tod war das einzige, was mich davon befreien würde, weiterhin Menschen zu enttäuschen, die es nicht verdient hatten.
Felix, der versuchte gesund zu werden. Rewi, dessen Versprechen ich gebrochen hatte. Julien, der mir immer versucht hatte zu helfen und mich aufzumuntern. Und am Ende Rezo, den ich so sehr gebrochen hatte, dass ich ihn verloren hatte. Ich muss sterben.
Erneut sammelten sich die letzten Tränen in meinen Augen. Ja, auch wenn ich sterben wollte, tat die Erkenntnis weh. Ich muss sterben, damit es den anderen besser geht.
Seit ich hier war, war mein Leben zwingend mit ihren verknüpft. Was mich beeinflusste, beeinflusste auch sie. Und dem musste ein Ende gemacht werden.
Vielleicht hatte mein Tod am Ende ja doch einen Sinn. Wenn auch keinen bedeutungsvollen. Dann wäre mein Tod immerhin nicht so sinnlos wie mein Leben. Ich sah von Rewi zu Julien.
Offenbar bin ich es nicht nur Rezo schuldig, mir das Leben zu nehmen...

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt