,,Ich würde heute gerne ein wenig mehr über dich erfahren", Frau Ohle sah von ihrem Bildschirm auf und tippte auf meinen Ordner. Ich sah vom hässlichen Teppich auf und nickte abwesend.
Gut, spielen wir mein trauriges Leben ein letztes mal durch. Wie man eine schlechte Geschichte ein zweites mal liest, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich schlecht ist. Frau Ohle lächelte erfreut und schlug meinen Ordner auf.
,,Hast du Geschwister?", fragte sie interessiert und holte ein Blatt Papier aus meinem Ordner. Sie griff nach einem Kugelschreiber aus einem Becher neben ihrem Monitor und schrieb etwas auf das Blatt.
Ich versuchte kurz zu erkennen, was sie schrieb, aber es war unmöglich ihre Schrift zu entziffern.
,,Nein", antwortete ich und schüttelte den Kopf. Zum Glück, sonst müssten wir alle das durchleben. Frau Ohle notierte sich meine Antwort.
,,Wer gehört noch zu deiner Familie?", fragte sie weiter.
,,Meine Mutter, mein Vater und sonst einige Verwandte", zählte ich bereitwillig auf.
Zu meinen Verwandten konnte ich nichtmal viel mehr sagen. Ich hatte noch eine Oma und zwei Opas. Aber zu allen drei hatte ich seit mehreren Jahren irgendwie keinen Kontakt mehr gehabt. Vielleicht hatte ich mich zu stark geändert, vielleicht aber auch sie.
Ich konnte mich lediglich an ihre Gesichter erinnern und einige Kindheitstage die ich mit ihnen verbracht hatte. Aber sie waren lange her und verblassten bereits in meinem Kopf.
,,In welcher Klasse bist du?", fuhr Frau Ohle fort.
,,In der Elften", antwortete ich und biss mir auf die Lippen. Bei meiner schulischen Leistung war das irgendwie schon ein Wunder.
,,Und auf welche Schule gehst du?", fragte Frau Ohle und hob interessiert den Kopf.
,,Eine Gesamtschule", murmelte ich und ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Zum einen hasste ich es von Frau Ohle angestarrt zu werden und zum anderen hasste ich auch das Thema.
,,Und hast du da Lieblingsfächer?", Frau Ohle schrieb sich wieder etwas auf.
Lieblingsfächer? Ich wollte lachen. Als wäre es nicht schlimm genug die Schule jeden Tag ertragen zu haben. Wie sollte ich da Lieblingsfächer haben?
,,Musik", log ich und fixierte einige Bücher auf einem Regalbrett.
,,Was interessiert dich an Musik denn?", Frau Ohle wirkte so erfreut über das Gespräch, dass ich innerlich den Kopf schüttelte. Sie sind Psycholgin. Sollten Sie nicht einen lügenden Jungen erkennen, der vorhat sich morgen das Leben zu nehmen?
,,Macht halt Spaß", murmelte ich abweisend und fuhr interessiert die Buchtitel entlang. Suizid als Ausweg - Der Umgang mit Gefährdeten. Der Weg aus der Depression - Traumreisen. Innere Leere und wie man sie bekämpft.
Ich überflog die weiteren Titel. Alles waren Sachbücher die sich mit den verschiedensten psychischen Krankheiten befassten.
,,Was sind denn deine Hobbys?", fragte Frau Ohle und folgte meinem Blick. Aber es war mir egal.
Hobbys? Ich ritze mich gerne, heule viel und rauche ab und zu. Und wenn ich nichts davon tue sitze ich herum und denke nach. Manchmal über mein trauriges Leben, manchmal wie ich es beenden soll. Zählt das? Aber ich schwieg.
Langsam nervte mich diese Unterhaltung. Sie war sinnlos. Ich riss mich von den Büchern los und musterte Frau Ohle. Wenn ein Mensch vor Ihren Augen ertrinken würde, würden Sie dann auch zusehen? Denn ich ertrinke gerade. Und Sie werfen Steine aufs Wasser statt dem Menschen einen Rettungsring zuzuwerfen.
Ich hatte Therapeuten nie verstanden. Aber vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. Diese immer wiederkehrenden sinnlosen Fragen, die wirkungslosen Medikamente, Kliniken...
Wieso ließ man Menschen nicht sterben, wenn sie wollten? Wieso gab man mir nicht einfach eine Klinge, Schlaftabletten oder einen einfallslosen Strick? Es würde beiden Seiten sinnlose Gespräche und weitere aufgeschobene Tage ersparen.
Wieso versuchten manche Menschen andere so verzweifelt am Leben zu erhalten? Es hatte irgendwie nie Sinn ergeben für mich. Wenn jemand seinen einzigen Ausweg im Suizid findet, wieso lässt man ihn diesen Weg nicht einschlagen?
Ich hatte jetzt lange genug versucht zu leben, irgendwie zurück zum Glücklich sein zu finden. Aber ich verrannte mich am Ende ja doch nur wieder in meinen eigenen Gedanken.
,,Kann ich gehen?", fragte ich abwesend. Dann begegnete ich Frau Ohles Blick.
,,Wieso das?", fragte sie verwirrt.
,,Ich habe heute nicht den Kopf dafür", ich zeigte auf das Blatt vor ihr. Und ab morgen wird es eh egal sein. Aber auch das sprach ich nicht aus.
Wenn das hier mein letzter Tag war, wollte ich ihn nicht hier verbringen. Nicht mit einem sinnlosen Gespräch über vergangene Tage. Außerdem hatte ich genug von all den Lügen. Ich war es Leid immer und immer wieder zu lügen. Mir neue Geschichten zurechtzuspinnen, neue tolle Kapitel in meine traurigen Seiten einzubauen.
Es war Zeit, dass mein Buch ein Ende fand. Meine Feder ist alt und mein Glas mit Tinte fast leer. Meine Pergament geht zur Neige und mir gehen die Ideen aus. Es war das Ende einer Kurzgeschichte, die wir im Deutschunterricht behandelt hatten. Komisch, wie viel mir manchmal im Gedächnis bleibt von so viel sinnlosen Dingen.
,,Natürlich kannst du gehen", Frau Ohle nickte und notierte sich etwas, ,,Dann würde ich deine nächste Therapiestunde aber auf übermorgen um zehn legen."
Übermorgen.
Ich nickte und stand auf. Es wird kein übermorgen geben. Noch einmal ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Dann drehte ich mich um und ging zur Tür.
Übermorgen ist alles vorbei.
Keine Gespräche.
Keine Therapeuten.
Keine Medikamente.
Keine hässlichen Teppiche.
Ich öffnete die Tür und zog sie ohne einen Blick zurück zu. Dann ging ich den Flur entlang. Irgendwie fühlte es sich gut an das zu wissen. Zu wissen, dass alles bald ein Ende haben würde und nichts mehr von Bedeutung war. Zumindest, wenn alles so klappte, wie es sollte.
Am Ende stirbt man wohl doch allein.
Ich seufzte und bog in den Flur zum Gemeinschaftsraum ein. Am liebsten würde ich auch die Gruppentherapie einfach wegfallen lassen, aber dann würden die Pfleger vermutlich misstrauisch werden. Und das war das letzte, was ich gebrauchen konnte. Dennoch war mir unbehaglich als ich den Raum betrat, auch wenn er noch leer war. Hier drinnen war ich nicht allein.
Hier würden Rewi, Julien und Felix sein. Und Rezo...
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...