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Ich betrachtete die Schachtel Zigaretten und drehte sie nachdenklich in meiner Hand.
In dem Moment sah ich aus dem Augenwinkel, wie eine Frau auf mich zukam und hob sofort den Kopf. Es war meine Mutter, die kurz zögerte bevor sie sich neben mich stellte und mir ein aufgesetztes Lächeln schenkte.
,,Können wir?", fragte sie und musterte die Schachtel in meiner Hand.
Ich warf einen Blick hinter sie. Doch er war nicht da. Natürlich war mein Vater nicht da. Ich nickte nur und erhob mich. Je schneller ich hier weg kam, desto besser.
,,Du weißt, dass du noch nicht rauchen darfst?", fragte meine Mutter mit einem strengen Unterton.
Ich nickte nur:,,Ist leer." Dann griff ich meinen Koffer und ging an mir vorbei. Als wenn ich nicht schon damals geraucht hätte.
,,Mexify", Mark trat mir in den Weg und ich sah überrascht zu dem durchtrainierten Pfleger hoch. Er streckte mir die Hand entgegen und ich griff verwirrt danach.
,,Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg. Du bist ein Kämpfer", er schüttelte meine Hand und schenkte mir ein Lächeln.
,,Danke", erwiderte ich ehrlich überrascht. Bei Mark war es anders als bei Frau Meier. Ihm glaubte ich die Worte sogar. Und trotzdem werde ich dich enttäuschen. Aber für den Moment schien es richtig zu sein zurückzulächeln.
,,Hier", Mark griff in seine Hosentasche und zog einen schwarzen Gegenstand hervor, ,,Das bekommst du jetzt ja wieder." Er überreichte mir mein Handy und ich nahm es entgegen.
Kurz musterte ich es, dann ließ ich es in meine Hosentasche gleiten. Es hatte sowieso keine Bedeutung mehr für mich.
,,Danke, dass Sie sich so um meinen Sohn gekümmert haben", auch meine Mutter reichte ihm die Hand.
,,Immer gerne doch", Mark lächelte, dann trat er einen Schritt zurück.
,,Tschüss", ich lächelte ein letztes mal, dann drehte ich mich zur Tür und ging darauf zu.
Mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, dass mich etwas nach draußen zog. Und gleichzeitig wollte ich nicht gehen. Als würden zwei Hände nach mir greifen und mit all ihrer Kraft an mir ziehen. Auf der einen Seite konnte ich nicht gehen.
Die Erinnerungen an Rezo waren genau hier. Hier waren Julien, Felix und Rewi, alles was ich noch hatte. Aber das Verlangen endlich diesen Ort zu verlassen war größer.
Vor mir schoben sich die Glastüren auseinander und ich nächsten Moment schlug mir frische Luft entgegen. Ich blieb stehen und holte erneut tief Luft. Es tat unglaublich gut zu atmen hier draußen. Als würde man all das um einen herum in seine Lunge aufsaugen.
Neben mir verließ meine Mutter das Gebäude und warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Ich sah ihr nach, wie sie den breiten Steinweg zu den Parkplätzen entlangging.
Du hast nie erlebt, wie das Gefühl ist so einen Ort endlich zu verlassen... Ungewollt drehte ich mich noch einmal um und musterte das weiße Gebäude.
Leb wohl Rezo... Auch wenn es schon Wochen her war, hatte ich das Gefühl, als wäre er immernoch hier. Er war hier gestorben. Hatte diesen Ort nicht mehr verlassen können. Ich spürte wie mir Tränen in die Augen stiegen. Tut mir Leid...
Mein Blick wanderte zu den Fenstern im ersten Stock. Wie oft ich während der Therapien bei Frau Ohle hinausgesehen hatte. Mir vorgestellt hatte endlich durch die Tür zu gehen, wissend, dass ich nie wieder zurückkehren würde. Und jetzt war es so weit.
Fast wünschte ich mir Rewi hinter einem der Fenster zu sehen. Oh Rewi... Ich unterdrückte den Drang mich umzudrehen und wieder hineinzugehen, nur um ihn noch ein letztes mal zu sehen. Aber ich konnte nicht. Leb wohl Rewi...
Schweren Herzens drehte ich mich von dem Gebäude weg und folgte meiner Mutter zum Parkplatz.
Es schien Jahre her zu sein, dass ich hier angekommen war, dabei waren es nur einige Monate gewesen. Monate, die ich nie hätte erleben sollen.
Ich hielt neben dem schwarzen Auto meiner Mutter und beobachtete sie, wie sie meinen Koffer in den Kofferraum lud und wortlos einstieg. Es schien so unwirklich zu sein, dass es jetzt vorbei war.
Das es keine Medikamente mehr geben würde, keine Pfleger, keine Therapien, keine geschlossenen Räume. Keine Freunde, keine lustigen Gespräche, keine ehrlichen Worte...
Ich seufzte und öffnete die Autotür. Dann stieg ich ein und schloss sie wieder. Mein Blick wanderte zu meiner Mutter, die das Auto startete und zu wenden began. Sofort musste ich wieder zu dem weißen Gebäude der Klinik sehen, in der ich jetzt so lange gewesen war. Eine Zeit, die es nie hätte geben sollen.
Dann fuhr meine Mutter über den Parkplatz und das Gebäude verschwand aus meinem Sichtfeld. Stattdessen schoben sich andere Häuser, Bäume und unzählige Leute vor mein Sichtfeld, während meine Mutter schweigend durch die Straßen fuhr. Wie voll die Welt doch ist.
Am liebsten hätte ich mich selbst ausgelacht. Es lebten so viele Menschen auf der Welt, wie konnte es mich wundern, dass so viele draußen herumliefen, statt in einer Klinik zu sitzen? Ich lehnte mich gegen den Sitz und schloss schwer atmend die Augen. Hier draußen spielte sich das Leben ab, nicht hinter den weißen Wänden einer Psychiatrie.
Es war erschreckend, wie normal der Klinikalltag für mich geworden war. Ein Blick durch die Seitenscheibe genügte und ich hatte das Gefühl nicht auf dieser Welt zu sein.
Nach einer halben Stunde Schweigen, bog meine Mutter schließlich in die gepflasterte Einfahrt ein und zog den Schlüssel aus dem Schloss. Zuhause. Zum ersten mal wurde mir bewusst, wie lange ich nicht mehr hier gewesen war. Das letzte mal war ich am Abend meines Versuchs hier...
Plötzlich wollte ich nur noch weg von hier. Zurück in die Klinik, ganz egal wohin, nur nicht hier hin. All die Erinnerungen an die ganzen schlechten Tage, Tränen, Geschrei, Klingen, Zigaretten, Selbsthass und die unzähligen Tabletten schienen wie ein Kartenhaus über mir zusammenzubrechen.
Meine Mutter stieg aus dem Auto und ging zum Kofferraum. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Als würde mich jede einzelne Erinnerung packen und in den Sitz drücken.
Wie soll ich das Haus betreten, in dem ich nur noch sterben wollte?

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt