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,,Wir sehen uns dann morgen, klar?", Julien blieb vor meiner Zimmertür stehen.
,,Jo, klar", ich nickte.
Lächeln nicht vergessen.
Ich lächelte.
Er erwiderte es.
,,Schlaf gut", Rezo strich mir über die Kapuze.
,,Ihr auch", sagte ich.
Lächeln nicht vergessen.
Ich lächelte.
Beide winkten, dann gingen sie den Flur weiter zu ihrem Zimmer. Ich sah ihnen schweigend nach. Stand einfach da und wartete bis sie ihr Zimmer betraten. Erst dann hörte ich auf zu lächeln und drückte die Tür zu meinem Zimmer auf.
Wieder allein. Ich schloss die Tür hinter mir, machte das Licht an und setzte mich auf einen der Stühle am Tisch. Dort stützte meine Ellenbogen auf das Holz und ließ meinen Gesicht in meinen Händen verschwinden. Wieso es mir auf einmal so schwer fiel allein zu sein, war mir ein Rätsel.
Ich war immer allein gewesen. Immer. Und kaum hatte ich mal ne Woche einen psychisch kranken Jungen im Zimmer wollte ich nichts lieber als nicht allein zu sein.
Das Öffnen meiner Tür ließ mich aufschrecken. Ich warf einen gleichgültigen Blick auf den Pfleger, der durch den Türspalt sah.
,,Alles okay hier soweit?", fragte er und ließ seinen Blick durch den Raum wandern.
Ich nickte:,,Ja."
Lächeln nicht vergessen.
Ich lächelte.
,,Dann gute Nacht", wünschte er mir und schloss die Tür wieder. Ließ mich wieder allein. Mein Lächeln erlosch mit dem Klicken der Tür. Ich seufzte und lehnte mich gegen das Holz des Stuhles.
Kurz überlegte ich es nicht zu tun, aber dann legte ich meinen linken Arm doch auf den Tisch und zog den Ärmel hoch. Ich hatte keine großen Erwartungen, aber der Anblick war dennoch unschön.
Der tiefste Schnitt war tatsächlich wieder aufgerissen und hatte geblutet. Immerhin war es nicht viel. Der Stoff hatte nichtmal unangenehm an der Haut geklebt. Ich betrachtete meinen Arm von allen Seiten. Überall Narben.
Wirklich großartig deine Kunst, Mexify.
Genervt legte ich den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Ich war ein wirklich großartiger Künstler.
Leinwand: Mein Arm.
Pinsel: Eine Klinge.
Farbe: Mein Blut.
Muster: Chaotische Striche.
Signatur: Meine Narben.
Wert: Wertlos.
Immernoch starrte ich auf meinen Arm. Erst als ich es nicht mehr aushielt stand ich auf und ging zum Schrank. Ich öffnete ihn, holte die Klinge unter meinem letzten T-Shirt hervor und schloss den Schrank wieder. Mit dem Metallstück in der Hand ließ ich mich wieder auf dem Stuhl nieder. Es klebte nichtmal Blut dran.
Prüfend fuhr ich mit dem Zeigefinger über die Kanten. Bisher hatte ich nur eine Seite genutzt. Aber diese war immernoch scharf genug.
Ich setzte sie an einer freien Stelle an und atmete tief ein. Dann zog ich sie durch und atmete aus. Für eine Sekunde starrte ich auf den Schnitt, dann erst kam der Schmerz.
Wie eine Schlange aus Feuer schlängelte sie sich meinen Arm entlang und brannte sich durch meine Haut. Aber kein Zischen entwich mir, ich starrte nur reglos auf das Blut, dass sie auf dem Schnitt bildete.
Ganz plötzlich trat es an jeder Stelle gleichmäßig zum Vorschein und färbte die Haut mit einem schimmernden rot. Dann sammelte sich das Blut an einer Stelle und lief meinen Arm herunter. Der Schnitt war nicht tief und blutete auch nicht allzu sehr, aber irgendwie beruhigte er mich. Die ganze Last des Tages und die Angst entdeckt zu werden, verschwand immer mehr.
Wieder suchte ich mir eine Stelle, dieses mal nahe der Ellenbeuge und setzte die Klinge an.
Einatmen. Durchziehen. Ausatmen. Warten. Schmerzen.
Der zweite Schnitt war nicht tief. Es bildeten sich nur an einigen Stellen Blutstropfen, die schimmernd auf dem Schnitt Platz nahmen. Ich konzentrierte mich auf den Schmerz und schloss die Augen.
Dieses Gefühl war besser als seine Lungn mit Rauch zu füllen. Besser als seinen Kopf mit Alkohol zu blockieren. Es nahm all die Sorgen, wenn auch nur für den Moment.
Ich merkte, wie ich ein kurzes Lächeln nicht verstecken konnte. Meine Droge. Ich hatte meine Droge wieder. In einer scheiß Klinik.
Ich schüttelte den Kopf. Es war verrückt. Da war ich unter anderem hier, weil ich mich selbst verletzte und kaum war ich hier, bekam ich die Chance dazu auch hier. Es war gerade zu einfach gewesen. Werd nicht übermütig.
Ein Teil von mir wollte sich die Klinge wieder und wieder über den Arm ziehen. Auch den anderen Arm verzieren. Meine Oberschenkel verzieren. Einfach alles. Aber das war idiotisch. Nicht, dass es mir nicht egal gewesen wäre, aber ich konnte ja schlecht zerschnitten durch die Klinik laufen. Dann steckten sie mich sicher auf 2.
Außerdem waren mir meine Arme lieber. Besonders der Linke. Dort konnte ich am meisten Druck ausüben und meine Kunst bewundern. Und die Haut war dort am dünnsten und der Schmerz erinnerte einen am längsten an das was man getan hatte.
Noch ein letztes mal setzte ich die Klinge an und zog sie durch. Der Schnitt war wieder nicht allzu tief, aber der Schmerz tat dennoch gut.
Ich legte die Klinge behutsam auf den Tisch und betrachtete meinen Arm. Jetzt hatte ich es also wieder getan. Aber so war ich leider.
Die Klinge war meine Droge und ich überfiel sie wie ein Süchtiger. Mit dem Unterschied, dass ich es nicht übertrieb. Und dem Unterschied, dass ich absolut krank im Kopf war. Niemand würde sich einfach so eine Klinge über den Arm ziehen, nur um Schmerzen zu spüren und sich davon betäuben zu lassen. Gestört bist du.
Ich seufzte. Konnte gut sein, aber wen kümmerte das schon?
Nach einer Weile stand ich auf, schob den Ärmel über die frischen Schnitte und räumte die Klinge zurück in den Schrank.
Der Abend war gar nicht so schlimm gewesen, ich hatte viel gelacht. Wir hatten über einige interessante Themen geredet. Aber jetzt war die Gegenwart und gerade war ich allein.
Und wenn ich allein war, tat ich nunmal dumme Dinge. Dumme Menschen tun eben dumme Dinge. Genauso war es doch oder?
Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte erneut an die Decke. Wäre ja auch langweilig, wenn jeder schlau wäre. Es musste ja auch die dummen geben, damit die Schlauen sich schlau fühlten...

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt