-65-

763 71 24
                                    

,,Guten Morgen, Maximilian", begrüßte Frau Ohle mich, als ich die Tür zu ihrem Büro hinter mir schloss, ,,Setz dich doch."
Widerwillig ließ ich mich auf dem Stuhl vor ihr nieder und warf einen kurzen Blick auf den Teppich. Er war immernoch absolut hässlich.
,,Wie geht es dir heute?", fragte die Psychologin ungerührt. Ich hab mich die letzten zwei Tage geritzt und habe vor es wieder zu tun. Ich belüge meine Freunde und habe Angst, dass sie es herausbekommen. Ich kämpfe gegen die Einsamkeit und weiß nicht was ich fühlen soll.
,,Gut", log ich und lehnte mich gegen das weiche Polster.
,,Soso", die Psychologin nickte nur. Das konnte alles mögliche heißen.
,,Vor unserer Sitzung würde ich gerne über etwas mit dir reden", hob sie schließlich an und blätterte in ihren Unterlagen. Ich warf ihr einen nervösen Blick zu. Wusste sie von meinen Schnitten?
Nein. Wie sollte sie? Frau Ohle griff nach einem Zettel:,,Ah hier. Man hat mir berichtet, dass deine Freunde dich hier 'Mexify' nennen. Bevorzugst du diesen Namen?"
Die Verachtung in ihrer Stimme war so leicht herauszuhören, dass sie es auch gleich laut aussprechen konnte. Aber immerhin ging es nicht um meine Schnitte.
Ich nickte als Antwort. Den Namen 'Maximilian' hatte ich noch nie gemocht. Er klang abgestumpft und irgendwie eintönig. Nicht das mein Leben dem Namen nicht gerecht wurde, aber 'Mexify', wie mich einer meiner wenigen Freunde damals genannt hatte, schien besser zu passen. Er war anders. Wie ich.
,,Dann werde ich das so an die Pfleger auf Station weitergeben. Einverstanden, Mexify?", fragte sie und notierte etwas auf dem Papier. Wieder sprach sie den Namen mit einem spöttischen Unterton aus.
Und Ihnen soll ich von meinen Problemen erzählen.
Ich schüttelte innerlich den Kopf. Was war das eigentlich für ein behindertes System?
,,Ich möchte gerne mit dir über eine andere Sache sprechen", Frau Ohle legte den Zettel zurück in meinen Ordner und schloss ihn. Dann sah sie mich mit einem gekünzelten Lächeln an:,,In vielen Kliniken ist es üblich, dass die Patienten nach einer gewissen Zeit eine Art Unterricht mit Stoff von ihrer Schule bekommen und daran hier arbeiten können um Schulstoff nicht gänzlich zu verpassen. Ich habe mich diesbezüglich mit den Pflegern abgesprochen und wir sind der Meinung, dass Schulstoff dir im Moment nicht gut tun würde, weswegen wir dich vorerst nicht zum Unterricht zulassen würden. Hast du Einwände?"
Schon als sie anfing zu reden, schoben sich Bilder von schlechten Noten, stressigen Klausuren und Mitschülern, die mir hässliche Beleidigungen an den Kopf warfen, vor mein Sichtfeld.
Ich sah mich zitternd über eine viel zu schwere Klassenarbeit kauern, wissend wieder eine sechs zu bekommen.
Ich sah mich weinend auf der Toilette sitzend, nur hoffend, dass der Schultag endlich ein Ende fand.
Ich sah mich in einer Gruppenarbeit allein an meinem Tisch sitzend, weil mich niemand in seiner Gruppe haben wollte.
Ich sah, wie Schüler mein Mäppchen nahmen und wetteten, wer es schaffte, es bis aufs Schuldach zu werfen.
Jedes Bild war so scharf, dass es mir vorkam, als säße ich wieder dort. Am Tisch in der Ecke des Klassenraumes, dort wo mich keiner wahrnahm und ich niemanden belästigte. Ich kniff die Augen zusammen, aber die Bilder blieben. Sie schoben sich vor die Schwärze und brannten sich dort ein.
,,Maximi- ähm... Mexify?", fragte Frau Ohle mich besorgt. Ich öffnete meine Augen wieder und schüttelte die Bilder ab. Ich wollte sie nicht sehen, wollte mich nicht sehen. Nicht schon wieder.
,,Ja, bin einverstanden", antwortete ich schließlich stockend. Niemals wieder wollte ich in die Schule. Niemals wieder wollte ich mir das antun. Sie war einer der Gründe für meinen Versuch gewesen.
Ich hatte es satt gehabt mich jeden Morgen aufs neue zwischen dem Höllentrip in der Schule oder einem Vormittag zuhause zu entscheiden. Zwischen dem Anschreien meiner Eltern für eine schlechte Note oder dafür, dass ich erst gar nicht zur Schule gegangen war.
Im Nachhinein war die Schule jedoch nicht das größte Problem gewesen. Denn wenn dem so wäre, müsste es mir hier doch besser gehen. Aber dem war nunmal nicht so.
,,Die anderen gehen doch auch nicht", fügte ich sicherer hinzu.
Es stimmte. Rezo, Julien, Felix und Rewi gingen nicht zum Unterricht. Wieso sollte ich mir das antun?
,,Das stimmt nicht ganz. Viele Patienten hier gehen nicht, aber es gibt durchaus zwei Patienten, die daran teilnehmen. Auf der offenen Station nehmen zum Beispiel alle daran teil," belehrte mich die Psychologin lächelnd. Dann kann ich ja froh sein nicht auf 4 zu sein.
,,Gut, dann gebe ich auch das so weiter", wieder notierte sie etwas und stempelte etwas ab.
,,Dann kommen wir zu einem weiteren Punkt unserer heutigen Sitzung, Moment", fuhr sie fort und zog einen neuen Zettel aus meinem Ordner. Sie überflog die Schrift darauf, dann sah sie wieder zu mir.
,,Vielleicht hat man dir schon davon erzählt, dass es bei uns üblich ist, dass wir hier regelmäßig Gespräche mit den Eltern und Patienten führen, damit wir Fortschritte und Diagnosen gemeinsam besprechen können", began sie, ,,Ich würde deine Diagnose und einige weitere Dinge gerne in unserem ersten Familiengespräch übermorgen besprechen. Hast du etwas dagegen?"
Am liebsten wäre ich aufgesprungen und gegangen. Es war einfach alles was dagegen sprach. Ich wollte nichts mehr von meinen Eltern wissen. Wegen ihnen war ich hier. Wegen ihnen lebte ich noch!
Aber mir fielen keine Worte ein und mein Hals wirkte wie zugeschnürrt. Wie sollte es hier besser werden? Alles war scheiße und es hatte sich nichts geändert!
,,Das nehme ich als eine Zustimmung", entschied Frau Ohle erfreut und notierte sich wieder etwas.
,,Kommen wir zu meinem letzten Punkt", fuhr sie fort und legte die Hände auf den Tisch. Dann lächelte sie mich wieder an.
,,Ich würde übermorgen gerne über das hier reden", sie griff in den Ordner und zog einen zerknitterten Zettel hervor.
Ein kurzer Blick genügte und mir wurde schlecht. Am liebsten hätte ich gebrochen und wäre dann ins Zimmer gerannt. Hätte mir die scheiß Klingt in den Arm gerannt um allem entgültig zu entfliehen. Aber ich konnte mich nicht rühren, nur wie erstarrt auf den Zettel starren.

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt