-44-

855 75 33
                                    

Ich betrat das Zimmer von Rewi und Felix als letzter.
,,Sucht euch einfach einen Platz", begrüßte uns Rewi und zeigte einladend durch den Raum. Felix saß auf seinem Bett mit dem Rücken an die Wand gelehnt und grinste. Etwas unsicher ließ ich den Blick weiter durch den Raum schweifen.
,,Mexi kommt zu mir", Julien hatte sich auf Rewis Bett gesetzt und klopfte neben sich auf die Decke. Dankbar ließ ich mich im Schneidersitz neben ihm nieder während Rezo sich einen Stuhl vom Tisch zur Seite zog.
,,Wurd ich einfach ersetzt", schmunzelte er und setzte sich.
,,Gar nicht wahr", Julien grinste.
In dem Moment wurde es dunkel im Raum und man sah Rewis Umriss zu Felix gehen.
,,Wir sitzen immer im Dunkeln", erklärte er mir, ,,Dann fällt es dir vielleicht auch leichter dich ins Gespräch einzubringen."
Meine Augen versuchten sich an die Schwärze zu gewöhnen. Langsam erkannte ich mehr Konturen und konnte sogar Rezos Gestalt erahnen.
,,Hat jemand Themenwünsche?", fragte Julien neben mir und ich zuckte kurz zusammen. Es war ungewohnt jemanden so nah neben sich zu haben ohne ihn zu sehen.
,,Vielleicht hat Mexify ja einen?", schlug Felix aus der anderen Ecke des Raumes vor.
Ich schüttelte sofort den Kopf. Stille folgte.
,,Nein", sagte ich schnell. Wie dumm kann man sein? Es ist dunkel du Idiot!
,,Wo haben wir denn damals aufgehört?", fragte Rezo. Wieder Stille.
,,Wir waren beim Thema Selbstverletzung", warf Felix schließlich in den Raum, ,,Aber ich weiß nicht inwiefern es jemanden triggern könnte."
,,Bin seit meiner Aufnahme clean", antwortete Rewi sofort. Ich blinzelte. Allmählich konnte ich die Anderen genau im Dunkeln erkennen. Das Licht einer Laterne von draußen drang zudem schwach durchs Fenster.
,,Ich auch", fügte Felix hinzu.
,,Mich triggert es nicht", murmelte ich in die Stille. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber gerade siegte meine Neugier und ich wollte den Anderen das Gespräch auch nicht kaputt machen.
Ich wandte meinen Kopf zu Rezo. Eigentlich rechnete ich fest mit einer Lüge, aber seine Antwort überraschte mich:,,Bin auch ne Woche clean. Das passt."
,,Och Rezo", ich konnte beihnahe sehen wie Rewi die Augen verdrehte, ,,Du hast gesagt, dass du es lässt."
,,Ich versuchs", antwortete Rezo ihm mit einem traurigen Unterton. Wieder herrschte Stille.
,,Ich hab nie angefangen", Julien neben mir lehnte sich an die Wand, ,,Einmal hat mir gereicht."
Ich musterte seinen Umriss neben mir. Seine Worte wunderten mich. Er hatte vielleicht nicht viele Narben am Arm, aber auch an seinem linken Unterarm hatte ich Narben gesehen. Konnte man sich das bei seinen ersten Schnitten zufügen?
,,Wir kennen unsere Geschichten dazu, aber von Mexify wissen wir dazu fast nichts", Rewi griff das Thema weiter auf, ,,Vielleicht kannst du uns etwas von dir dazu erzählen?"
Ich sah jetzt in seine Richtung und konnte fast spüren wie sich unsere Blicke trafen. Dann biss ich mir auf die Lippen. Wieso musste ich anfangen? Wo fing man überhaupt an?
,,Ich hab mich vor fünf Jahren das erste mal selbst verletzt", hob ich zögernd an, ,,Das letzte mal ich jetzt einen Monat her. Glaube ich."
Dann schweig ich wieder und starrte in die Dunkelheit.
,,Ist ne lange Zeit", hörte ich Felix sagen. Ich nickte langsam. Dieses mal war mir bewusst, dass mich niemand sah. Ich tat es um mich selbst zu bestätigen. Fünf Jahren waren eine lange Zeit.
,,Was fühlst du, wenn du dich selbst verletzt?", fragte Rewi mich in dem Moment und unterbrach meine Gedanken. Unsicher zog ich die Ärmel des Hoodies über meine Hände und krallte sie in den Stoff. Was fühlte ich dabei?
,,Es ist schwer zu beschreiben", antwortete ich schließlich leise. Mir fielen keine passenden Worte ein.
,,Versuch es einfach", sagte Julien aufmunternd. Wieder überlegte ich. Ich schloss die Augen und versuchte mich an das Gefühl zu erinnern, wenn ich eine Klinge über meinen Arm zog. Nein, nicht das Gefühl. Es waren mehrere.
Ich fröstelte bei den Erinnerungen die mir plötzlich in den Kopf schossen. Aber dieses mal wollte ich mich erinnern. Dieses mal hatte ich die Kontrolle. Kontrolle...
,,Soll ich anfangen?", fragte Rezo.
Sofort nickte ich dankbar:,,Gerne." Solange Rezo sprach konnte ich vielleicht überlegen.
,,Es staut sich an. Manchmal stundenlang, manchmal sind es Tage, manchmal Wochen. Es ist ein Gefühl, eine Vorahnung, dass ich es tun werden. Das ich es tun muss. Für dieses Gefühl gibt es kein Wort. Man muss es fühlen um zu wissen, wie es ist. Meist ist es schwer. Wie eine Wolke, die einen wie Nebel umgibt und nicht loslässt. Eine Wolke die einen mit kalten Händen umschließt und einen allein mit der Leere und den negativen Gedanken lässt. Und wenn ich es dann tue, wenn ich mich verletzte, dann ist es... als würde ich den Nebel zerschneiden. Immer und immer wieder. Tiefer. Stärker. Häufiger. Und mit jedem Schnitt lichtet sich der Nebel. Ich beginne wieder zu fühlen. Ich beginne wieder zu atmen. Die Last, die der Nebel bringt, verblasst. Und es tut gut",Rezos Worte erfüllten den Raum und ich sah überrascht in seine Richtung als er sprach, ,,Dieses Gefühl kann man nicht beschreiben. Es ist ein Gefühl zwischen Freiheit und Glück."
War es das was ich fühlte? Ich war mir nicht sicher. Ein Teil von mir wolte Rezo zustimmen, aber der andere Teil weigerte sich. Wieder war es Stille die uns umgab.
,,Wow", flüsterte Felix leise, ,,Das war sehr schön beschrieben."
,,Passend", kommentierte auch Rewi. Das er so offen über seine Gefühle sprach war mir neu. Woran lag das? Oder war er einfach nur gut darin, weil er sie besser als alles andere kannte?
,,Das Gefühl ist eine Lüge", hörte ich mich sagen. Was tu ich da gerade?
,,Wie kann ein Gefühl eine Lüge sein?", fragte Felix mich verwirrt. Ich biss mir auf die Lippen. Wieso antwortete ich, wenn ich keine Ahnung hatte, was ich sagen wollte?
,,Sich Schmerzen zuzufügen ist kein Glück. Keine Freiheit", versuchte ich meinen Gedanken in Worte zu fassen, aber es fiel mir schwer, ,,Der Kopf tut, als würde man das fühlen. Dabei ist es nur gelogen, weil es das einzige Gefühl ist, das man kontrollieren kann." Ich schwieg.
Stimmte was ich sagte oder belog ich mich selbst?

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt